Carolin Henneberg von der Offenbach Post hat mich besucht und mir bei der Behandlung einer Bursitis (Schleimbeutelentzündung) des Ellenbogengelenks bei dem Hovawart-Mischlings Hank über die Schulter geschaut.

Vielen Dank für den grossartigen Bericht!

20.06.1016

„Dietzenbach – Beißen, saugen, heilen: Der Kuss eines Blutegels hat’s in sich. Tierheilpraktikerin Corinna Brzinsky bietet ihren Patienten mit ihrer mobilen Tierheilpraxis Rhein-Main den Biss des schwarzen Ringelwurms an. Von Carolin Henneberg

Kopf voran wühlt sich Bruno durchs Fell. Das Hinterteil fest an den Körper des Hundes gepresst, fühlt er vor. Sucht nach einer Stelle zum Andocken. Instinktiv spürt er die Entzündung, kriecht Richtung Bein, ist hungrig, giert nach Nahrung. Plötzlich: Der Zehnäugige hält inne, klammert sich mit seinem hinteren Saugnapf fester an seine Mahlzeit. Bäumt sich auf. Beide Körperenden schieben sich dicht nebeneinander und bilden ein ovales Rund. Dann schlägt der skelettlose Parasit seine Zähne ins Hundefleisch. Beißt sich fest. Mit jedem Schluck wallt Blut durch Brunos glänzenden, schwarz und grün-rot gestreiften Körper. Mit drei Kieferleisten – jeweils 80 Zähne stark – gräbt er sich in die Haut. Bruno ist ein Blutegel – und ein Heiler.

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„Ja, die kleinen Vampire können zunächst etwas gruselig und vielleicht sogar eklig sein“, sagt Corinna Brzinsky und lacht, während sie Bruno bei der Mahlzeit beobachtet. „Doch es gibt kein medizinisches Präparat, das so viel gleichzeitig kann wie der Hirudo medicinalis.“ Die junge blonde Frau – sie trägt hellblaue Jeans, ein weißes langärmeliges Shirt und schwarze Reiterstiefel – ist Tierheilpraktikerin. Ihre Spezialität: Die Blutegel-Therapie. Rund 30 verschiedene Enzyme im Speichel des Blutsaugers wirken entzündungshemmend und schmerzlindernd, kurbeln das Immunsystem an, fördern den Lymphabfluss, hemmen die Bildung von Blutgerinnseln im System der Blutgefäße. Außerdem bringt der Biss eines Egels, der zur Familie der Regenwürmer gehört, einen Mikroaderlass mit sich. Die Wunde kann bis zu 48 Stunden nachbluten, „was ausdrücklich erwünscht ist“, wie Brzinsky erklärt, „und zu einem Anti-Aging-Effekt führt“.

Mit ruhiger, entspannter Stimme redet die 28-Jährige auf ihren Patienten ein: „Alles fein Hanky, ganz ruhig bleiben.“ Schon früh hatte sie einen guten Draht zu Tieren: „Mein Vater arbeitet als Gehege-Designer und Tierpfleger im Frankfurter Zoo, ich war oft dabei.“ Der braune Hovawart-Mischling entspannt sich. Der heilende Biss des etwa fünf Zentimeter langen und bleistiftdünnen Ringelwurms an seinem Bein soll ihm helfen, soll für die Linderung seiner Schmerzen durch eine Schleimbeutelentzündung am Ellenbogengelenk sorgen. Hank steht am bodentiefen Fenster seines Zuhauses. Schaut raus. Rülpst. Brzinsky und Hanks Frauchen Andrea – groß, schlank, mit modisch blondem Kurzhaarschnitt – lachen.

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Auch wenn der sechsjährige Rüde entspannt wirkt, er hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Seit zwei Jahren ist Hank bei der 54-jährigen Andrea und ihrem Mann in einer Kleinstadt im Rhein-Main-Gebiet. Sie haben ihn gerettet, wohl wissend, dass viel Arbeit auf sie zukommt. Hank lebte jahrelang in Bulgarien auf der Straße. Ernährte sich aus Mülltonnen, wurde misshandelt, getreten, mit Zigaretten verbrannt. „Zu guter Letzt hat ihn noch ein Kleintransporter angefahren“, erzählt Andrea wütend. Das Resultat: schwere Kopfverletzungen, Sehbehinderung, zertrümmerte Hüfte, Bandscheibenvorfall, Niereninsuffizienz, Stuhlinkontinenz. „Hätten wir ihn nicht zu uns geholt, hätte ihn kein anderer genommen“, erklärt Andrea, „Da wischt man ihm auch gerne mal hinterher.“

Mit ihren schlanken Fingern greift Brzinsky, die nebenbei als Stewardess bei der Lufthansa arbeitet, in ein großes, mit Wasser gefülltes Einmachglas auf dem Wohnzimmertisch. Schnappt sich einen der übrigen vier flinken Blutegel. Lässt ihn über ihre Hand wandern. Der wirbellose Wurm bewegt sich wie eine Raupe: Mit dem Saugnapf am Hinterteil klammert er sich an Corinna Brzinskys Daumen. Reckt den Kopf in alle Richtungen, visiert einen Punkt am Handteller an, schießt nach vorne, platziert den vorderen Saugnapf und zieht den Körper nach. Als er beide Körperenden dicht nebeneinander schiebt und sich aufbäumt, zieht die Heilkundlerin ihn ab: „Jetzt ist er kurz vorm Beißen.“

Das Wort Egel stammt vom griechischen Wort Echis und bedeutet so viel wie kleine Schlange. Parfüm oder Deo legt Brzinsky während ihrer Hausbesuche nie auf, denn die Duftstoffe würden die Egel vom Beißen abhalten: „Warm und geruchsneutral ist am Besten, Gewitter mögen sie auch nicht.“ Brunos Artgenossen wuseln währenddessen weiter durchs Wasser. Einer macht sich auf in Richtung Freiheit, hat es fast geschafft: „Das sind wahre Ausbruchskünstler,“ sagt Brzinsky. Der Wurm auf ihrer Hand landet wieder im Glasgefängnis. Der Ausbrecher muss folgen: „Eins, zwei, drei, vier… gut, noch alle da.“ Deckel vorsichtshalber wieder drauf.

„Blutegel Bruno“ – Hundehalterin Andrea gibt den tierischen Therapeuten jedes Mal einen Namen, der letzte hieß Kurt, er hängt noch trinkend an Hanks Hundebein. „Die Behandlung kann bis zu 90 Minuten dauern“, erklärt Brzinsky. In dieser Zeit wächst ein Egel, der bis zu 30 Jahre alt werden kann, auf das Fünf- bis Sechsfache seines ursprünglichen Körpervolumens an. Die Frauen machen es sich auf Couch und Sessel bequem, quatschen, trinken Kaffee, überbrücken die Wartezeit. Mischling Hank zieht sich ins Nebenzimmer zurück. Die Behandlung macht ihn schläfrig. Apropos schläfrig: „Während sie trinken, pennen die Egelchen gerne ein, deswegen muss ich Bruno immer mal wieder anstupsen“, erzählt die Medizinerin. Außerdem kommen die kleinen Symbionten – sie trinken vom Wirt und heilen zum Dank – bei ihrer Arbeit ganz schön ins Schwitzen: „Das was der Egel vom Blut braucht, dickt er ein, den Rest schwitzt er direkt aus“, erläutert Brzinsky.

Kurzer Zwischencheck bei Hank: Eine halbe Stunde ist rum. Bruno hängt, schwitzt, ist nicht eingeschlafen, säuft sich dick. Der Großonkel des Regenwurms hat seine schlanke Figur bereits verloren. Der rote Lebenssaft zeigt Wirkung: Vom Bleistift zum Kugelschreiber in 30 Minuten. Weiterhin: Abwarten und Kaffee trinken – und Blut natürlich.

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Zur Tierheilkunde kam Brzinsky durch persönliche Erfahrungen: „Ich hatte jahrelang Probleme mit Halsentzündungen, nichts hat geholfen.“ Nach dem Besuch einer Homöopathin war die chronische Erkrankung Vergangenheit. „Das wollte ich auch, die Wurzel der Erkrankung finden, nicht nur Symptome behandeln.“ Wichtig ist ihr aber die Aufklärungsarbeit: „Wir Naturheilkundler sind keine Scharlatane. Wir helfen einfach nur fernab von der Schulmedizin.“

Doch Konkurrenz gibt es keine, sagt sie: „Oft arbeite ich mit dem Tierarzt Hand in Hand. Ich weiß genau, wann Naturheilkunde ihre Grenze erreicht hat.“ Es ist wichtig, Notfälle zu erkennen: „Bei einer Magendrehung etwa kann ich rein gar nichts machen, da muss ein Arzt ran.“ Schon seit der Antike finden sich Nachweise über die alte Heilkunst. So hält Dhanvantari, der hinduistische Gott der Medizin, einen Blutegel in der Hand. Erneuter Blick auf den Mischling mit Wurm am Bein: Eine Stunde ist rum. Bruno hängt noch, ist eingenickt, wird angestupst, säuft weiter, schwitzt stärker.

Wie sich der Biss eines Egels anfühlt? Brzinsky kann’s beschreiben. Hat es selbst ausprobiert. „Ich hatte schlimme Arthrose in den Fußzehen, hohe Schuhe tragen war fast schon eine Qual.“ Also hat sie sich einen Blutegel angesetzt: „Man merkt es kaum, es fühlt sich an, wie wenn man eine Brennnessel streift.“ Das Fazit nach einmaliger Behandlung: „Ich kann wieder problemlos und vor allem schmerzfrei High Heels tragen.“ Auch wenn es einfach klingt, therapieren darf nicht jeder. Um einen Blutegel zu kaufen, einer kostet etwa fünf bis sechs Euro, ist ein Therapeutennachweis nötig. Außerdem steht der medizinische Blutegel in Deutschland, der Schweiz und Österreich unter Naturschutz und darf nicht aus Tümpeln gefischt werden.

Nächster Besuch im Nebenzimmer: 90 Minuten sind rum. Blutegel Bruno denkt nicht ans Aufgeben, nimmt langsam aber sicher die adipöse Form eines Textmarkers an. Hundehalterin Andrea denkt ans Abziehen. Brzinsky lehnt den Vorschlag ab: „Wenn wir den Egel zwingen wollen loszulassen, bekommt er Angst. Die Aufregung würde dafür sorgen, dass er sich in die frische Wunde übergibt.“ Gut, das will hier keiner. Weiter saugen! Wer die Erde schon seit mehr als sechs Millionen Jahren seine Heimat nennt, sollte auch wirklich nicht gestresst werden.

Der Hovawart-Mischling fügt sich seinem Schicksal. Die Menschen auch. Warten. In zehnminütigen Abständen überprüft Brzinsky Brunos Verfassung und Körperumfang. Schon oft war die Tierheilpraktikerin bei Andrea und Hank zur Behandlung im Haus: „Neben meinem Mann und mir ist Corinna die Einzige, die sich Hanky ohne ein Knurren nähern darf, er hat sie im Rudel akzeptiert.“ Andrea holt ihr Handy raus, zeigt Videos: „Anfangs, als er zu uns nach Deutschland kam, konnte er so gut wie gar nicht laufen, die Hinterbeine standen immer über Kreuz, wurden hinterher geschliffen.“ Die jüngste Aufnahme zeigt den Rüden auf einer grünen Wiese. Die Sonne scheint. Er läuft schnell. Rennt schon fast auf ein Bächlein zu. Setzt an. Springt drüber. „Das wäre vor einem Jahr nicht denkbar gewesen“, sagt Andrea. „Corinna hat wahre Wunder bewirkt.“

Ein Ruf aus dem Nebenzimmer: „Es ist so weit!“ Bruno, der kleine Therapeut, ist nach über zwei Stunden satt und müde abgefallen. Fett geworden ist er. Zweifingerbreit liegt er auf dem grauen Steinboden, Blut kleckert aus seinem Maul. Viel langsamer als vorher zieht er sich vorwärts. Etwa ein Jahr lang braucht der genügsame Egel jetzt nichts mehr essen. Hank liegt auf dem Fußboden. Blut tröpfelt aus der Wunde.

Bruno hat seine Arbeit getan: Für die nächsten Wochen, vielleicht sogar Monate, wird sich der gebeutelte Rüde wieder besser bewegen können. Seine Schmerzen werden erträglicher sein: „Nach dem ,Egeln’ ist er flexibler im Gang, läuft schneller, ist einfach auch freundlicher“, sagt Andrea. Zurück bleibt eine zarte Bissstelle in Form eines winzigen Mercedes-Sterns. Verband um die Wunde am Hundebein. Schön bluten lassen. Zur Belohnung gibt’s ein Stückchen Käse vom Frauchen. Für heute hat’s der Rüde hinter sich. Brzinskys Motto für ihre Sitzungen: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich.“

Für Blutegel Bruno geht’s in den nächsten Tagen per Post – gekennzeichnet als Lebendware – zum Rentnerteich ins Biebertal. „Bis vor Kurzem gab es den Teich für ausgediente Egel noch nicht“, erklärt Brzinsky, „nach verschaffter Linderung bei den Patienten mussten sie getötet werden.“ Wer nämlich einmal als lebender Blutbeutel aktiv war, darf kein zweites Mal ran: Infektionsgefahr. Damit ist aber nun Schluss und die medizinischen Helfer, die extra für Behandlungen gezüchtet werden, dürfen ihren Lebensabend gemeinsamen mit vielen Artgenossen im gemütlichen Biotop verbringen. Schöne Rente, lieber Bruno!“